Leben lernen

Er hätte der nächste Gast der „Literatur auf der Insel“ im Café Ada sein sollen, kann aber aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen: der umtriebige Schriftsteller Peter Härtling.

Unsere Bücher des Monats sind seine Autobiographie unter dem beziehungsreichen Titel „Leben lernen“, der auch als Überschrift zu dieser Besprechung gewählt wurde, und sein jetzt im Deutschen Taschenbuch-Verlag bereits in fünfter Auflage erscheinendes Werk „Liebste Fenchel!“, in dem er der begnadeten Komponistin Fanny Hensel-Mendelssohn ein Denkmal gesetzt hat. Heinrich Heine nannte sie beizeiten „das liebe Kind, so lieb, so hübsch, so gut, jedes Pfund ein Engel“. Härtling_Mendelssohn

Sie hat ihr Lebtag darunter leiden müssen, dass ihr Bruder eine Wunderknabenkarriere starten konnte, während sie selbst nur im privaten Umfeld zur Kenntnis genommen wurde. Was sie – so ist jedenfalls Härtlings Version – ohne Erbitterung trug.leben_lernen-9783423132886

Er selbst beschreibt sich in „Leben lernen“ als eine Person voller Unrast, der in gewisser Beziehung und unbeschadet der dem Alter geschuldeten Maläsen jung geblieben ist („das Kind, das in mir noch rappelt“, S. 14). 1933 geboren, brachte er es schnell zum Redakteur der „Deutschen Zeitung“, zum Mitherausgeber des „Monat“, zum Cheflektor und Geschäftsführer des S.-Fischer-Verlages. Auf den „Monat“ wirft er ein interessantes Licht. Die Redaktion residierte in einer mondänen Dahlemer Villa, in der es aber doch mehr tiefgehende Diskussionen gab – so zum Vietnamkrieg -, als man bisher wahrgenommen hat (S. 249 ff.). Er war auch dabei, als eine Gruppe politischer Publizisten wie Günter Gaus, Günter Grass und Reinhard Lettau, allesamt schon verstorben, auf Bitten des Bundespräsidenten Gustav Heinemann darangingen, ein offenes, die SPD „auch attackierendes Blatt“ aus der Taufe zu heben. Indes: „Aus der Zeitung wurde selbstverständlich nichts“ (S. 179).

Ein großer Erzähler, der viele Dinge erlebt hat, die den Jüngeren kaum noch bekannt sind. Die Autobiographie kann man getrost als Geschichtsbuch lesen, in dem er so ziemlich am Ende eine Quersumme zieht: „Habe ich Leben gelernt? Wie viel? Was habe ich mir aufgehoben? Wahrscheinlich genügt es nie. Doch noch einmal, nachdem alle Ichs ihrem Alter entschlüpft und zum alten Mann geworden sind, noch einmal ein Anflug von Anarchie, ein Aufbruch. Den verdanke ich Hölderlin“ (S. 359). Dass es in diesem schönen Buch allerdings kein Personenregister gibt, dafür sollen sich die Verlage Kiepenheuer und dtv schämen.

Übrigens kommt statt Härtling am 5. Juni der Drehbuchautor, Schriftsteller und Hochschullehrer Alex Capus zur „Literatur auf der Insel“ ins Ada.

MATTHIAS DOHMEN

 

Peter Härtling, Leben lernen. Erinnerungen, München: dtv 32012 (= dtv, 13288), ISBN 978-3-423-132888-6, 363 S., Euro 11,90, www.dtv.de.

Peter Härtling, Liebste Fenchel! – Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn, München: dtv 52014 (= dtv, 14195), ISBN 978-3-423-14195-6, 376 S., Euro 9,90.

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