„Ein Licht entzünden in finsterster Dunkelheit“
Und wieder ein kolossales Werk des Meisters mit irren Beschreibungen halbrealer Gestalten, tausend Anspielungen auf Gott und die Welt und einer wie bei Moers üblich überbordenden Phantasie. Und da wir die Kunst nicht von der Realität trennen wollen und Zusammenhänge sehen, wo sie existieren, wird uns „erneut bewusst, wozu Komik fähig sein kann: ein Licht zu entzünden in finsterster Dunkelheit“ (S. 361).
Das ist auch nötig in diesen dunklen Zeiten. Hildegunst von Mythenmetz, das alter ego des Schriftstellers, besucht Leuchttürme auf Eydernorn und lernt sprechende Grabmale, eine Stadt ohne Türen, die Schiefe Gasse, lebende Tätowierungen, grübelnde Eier, würgende Wolken und blutende Wände kennen. Anspielungen auf fiktionale und auf reale Ereignisse ohne Ende. „Ich erschrak. Jetzt? Meinte er damit sofort? Umgehend? Auf der Stelle? Justament? Das kam nun doch sehr plötzlich“ (S. 270). Die Gebrechen dieser Welt werden, ironisch gebrochen, beim Namen genannt: „Nichts auf unserem Planeten ist wichtiger als die Luft. Lebewesen vergehen und Berge zerfallen, Wälder verdorren, Flüsse und Meere trocknen aus“ (S. 520). Kurz: Das „Leben unserer Welt“ ist „in die falsche Richtung abgebogen“ (S. 552). Die seit einigen Jahren zu beobachtende Ignoranz und Geschichtsvergessenheit, die eine große und legendäre Partei ihre Historische Kommission auflösen ließ, wird benannt: „Oder sind die Eydernorner tatsächlich nur ein ignorantes Volk von abergläubischen Netzflickern und Schafscherern, das sich keinen Deut für die eigene Vergangenheit interessiert“ (S. 454). Dass nicht nur der Rezensent, sondern auch der Autor älter werden, merkt man schmerzlich an den folgenden Sätzen: „Nirgendwo empfindet man sich mehr als Spielball des Schicksals als in der Praxis eines Arztes, der gerade deine Krankenakte studiert. Liest er da dein Todesurteil oder die Begnadigung? Die Sinne sind geschärft, die Nerven aufs Äußerste angespannt“ (S. 59 f.).
Moers, der keine Interviews gibt und gern als „scheu“ beschreiben wird, macht sich seine Gedanken über die „brotlose Kunst“ und ihren möglichen Einfluss auf den Gang der Dinge. Die Möglichkeiten der Literatur schätzt er gering ein. Da mag viel Enttäuschung eine Rolle spielen.
Jedenfalls ist es phantastisch, wie Moers die Leiden und Freuden des Lebens zum Thema macht. Mehr die guten als die schlechten Erfahrungen, sonst säße man nicht Stunden um Stunden an Hildegunst von Mythenmetz‘ Erlebnissen. In Frageform thematisiert der „Käptn Blaubär“-Erfinder das große Bild des leuchtenden Turms: „Gibt es ein romantischeres und metaphorisch aufgeladeneres Gebäude als einen Leuchtturm? Eines, das mehr man den vielbeschworenen Elfenbeinturm des Schriftstellers erinnert“ (S. 23).
So folgt man gebannt den Abenteuern des zamonischen Großschriftstellers. An zwei Stellen merkt man, dass Moers die Luft auszugehen drohte, und zwar nach dem achten Brief Mythenmetz‘ an seinen „Dichtpaten“ und ganz zum Schluss, als der Leser quasi das Material in Form von Zeichnungen vorgesetzt bekommt, die gewissermaßen schriftlich unkommentiert bleiben. Überhaupt geht Moers am Ende etwas die Luft aus.
Schade, dass in dem so sorgfältig lektorierten Buch ein paar Dutzend „Tüttelchen“, also An- und Abführungen, fehlen. Im Manuskript standen sie sicher noch drin. Der Autor bedient sich formal der Tradition des „Briefromans“, die Erzählung besteht aus 19 „letters“, die Mythenmetz an seinen Freund Hachmed Ben Kibitzer schreibt. In der WZ vom 1. November heißt es lobend über eine Inszenierung, die nix mit Moers zu tun hat, sicherlich befördere die Gegenwart „angesichts täglich sich verschlechternder Nachrichtenlage das Bedürfnis nach Ablenkung“. Den „Leuchttürme“-Verfasser aber loben wir, weil er zum Kern der Dinge hinführt. MATTHIAS DOHMEN
Walter Moers, Die Insel der Tausend Leuchttürme, München: Penguin/Randomhouse 2023, 635 Seiten, ISBN 978-3-328-60006-0, www.penguin-verlag.de, 42,00 Euro.
Weiter mit:
Kommentare
Neuen Kommentar verfassen