Das „vergessene“ Gutachten des Staatsrechtlers Hermann Kantorowicz

„Versailles und die Welt 1918-1923“ beschreibt der Historiker Jörn Leonhard in einem schwergewichtigen und gut lesbaren Buch, das jetzt bei Beck erschienen ist.

Die Welt sah nach dem „Großen“ Krieg, wie ihn die Zeitgenossen nannten, verändert aus: Zwischen 1917 und 1923 fielen vier kontinentaleuropäische Monarchien, nämlich Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Die „sozialistische Befreiung der Menschheit“ erschien am Horizont – so hofften jedenfalls neben Millionen Proletariern der Künstler Ferenc Márton in Ungarn sowie die Schriftsteller Erich Mühsam und Ernst Toller in Bayern. 1939 und in den 1940er-Jahren wurden alle diejenigen betrogen, die von einer neuen und besser geordneten Welt geträumt hatten: Das „große, das heilige Versprechen, das man den Millionen gegeben, dieser Krieg würde der letzte sein“, so wird Stefan Zweig zitiert (S. 1259), wurde gebrochen.

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Und wer war am Ersten Weltkrieg schuld oder trug doch ein Hauptteil der Schuld? Es waren eben nicht nur die Anderen – der „Erbfeind“ im Westen, das „fiese Albion“, Serben -, sondern Deutschland trug einen erheblichen Anteil am Ausbruch der Katastrophe. Leonhard singt das Lob von Hermann Kantorowicz: „In seinem ‚Gutachten zur Kriegsschulfrage’ vertrat er entgegen der offiziellen Argumentation nicht den Standpunkt einer notwendigen Revision des Versailler Vertrages, sondern betonte im Gegenteil zu der von ihm erwarteten Entlastung Deutschlands die besondere Verantwortung des Deutschen Reiches für den Ausbruch des Krieges“ (S. 1217).

Sechs Jahre hatte der Staatsrechtler im Auftrag des Auswärtigen Amtes an seinem Gutachten gearbeitet, das in der Weimarer Republik nie an die Öffentlichkeit kam und erst 1967 aus dem Nachlass publiziert wurde, und zwar von dem Fritz-Fischer-Schüler Imanuel Geiss. Die vermeintliche „Ehre des Deutschen Heeres“ war der Regierung viel Geld, Institute und Zeitschriften wert. – 1961 erschien Fischers Klassiker „Griff nach der Weltmacht“.

„Die materiellen Bedingungen des Versailler Vertrages waren ohne Zweifel hart, doch sie stellten weder die territoriale Integrität des Reiches infrage, noch zerstörten sie von vornherein die ökonomische Potenz Deutschlands“, stellt Leonhard auf S. 1217 fest. Es ist eben nicht wahr, dass die „Revanche“ und der Nationalsozialismus auf irgendeine Weise quasi zwangsläufig kommen mussten und die Republik von Weimar ohne Chance war. Irreführend ist mithin das Wort von der „Zwischenkriegszeit“.

Gegen die „suggestive Verknüpfung von 1918 und 1939/45 steht die widersprüchliche Offenheit des historischen Moments“ (S. 1260), wie wir schon von Detlev J. K. Peukert wissen („,Weimar’ geht nicht in Anfang und ende auf. Die 14 Jahre seiner Existenz stellen auch eine Epoche eigener Art dar“, so im Vorwort zu seinem Standardwerk „Die Weimarer Republik“). Insoweit ist der Titel zu diesem sehr verdienstvollen Werk etwas schief: Der Frieden war suboptimal, aber nicht „überfordert“ oder überfordernd.

Nicht zu vergessen: 88 Abbildungen – nicht selten aus dem „Simplicissimus“ – und 15 Karten ergänzen das Bild, das Leonhard so sorgfältig zeichnet. Winziger Fehler: Das Werk von Márton (S. 21) fehlt im Literaturverzeichnis.     MATTHIAS DOHMEN

 

Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923, München: Beck 2018, ISBN 978-3-406-72506-7, 1581 S., Euro 39,95,www.www.chbeck.de.

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