Buch der Woche: Matthias Dohmens „Geraubte Träume“

Geschichte für interessierte Laien: Auf diesen Nenner könnte man die Besprechung dieses Buchs durch Prof. Dr. Horst August Wessel bringen.

Die 2014 von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf mit dem Titel „Der Kalte Krieg und die Geschichtswissenschaft in den 1950er und 1960er Jahren. Die deutsche Arbeiterbewegung des Jahres 1923 in ausgewählten Darstellungen aus der DDR und der Bundesrepublik“ angenommene Dissertation des Wuppertaler Historikers und Journalisten ist lesens- und hinsichtlich ihrer Ergebnisse unbedingt beachtens- und bedenkenswert. Sie präsentiert auf der Grundlage eines umfangreichen Quellen- und Literaturstudiums, wobei auch zahlreiche bisher übersehene oder unbeachtete Zeugnisse genutzt wurden, sowie der Befragung wichtiger Zeitzeugen anschauliche Belege dafür, dass in den ersten Nachkriegsjahrzehnten Historiker in den beiden deutschen Staaten sowohl untereinander (denn die Reihen waren weder in West noch in Ost geschlossen) und vor allem gegeneinander heftig um die Deutungshoheit der deutschen Geschichte gekämpft haben. Dieser Kampf ist, weil sich Wissenschaftler von Ansehen und Einfluss in den Dienst der jeweiligen höchst gegensätzlichen Tagespolitik stellten, dabei vor Unterstellung und Diffamierung nicht zurückschreckten, von einem Fachkollegen aus dem neutralen Finnland als „Kalter Krieg der Geschichtswissenschaftler“ empfunden und auch so bezeichnet worden. Während im Westen eine Disziplinierung durch die Verweigerung öffentlicher Mittel, durch Veröffentlichungs- und Berufungssteuerung – nicht in allen Fällen erfolgreich – versucht wurde, standen „Abweichler in der DDR noch unter wesentlich stärkerem Druck, außerdem war ihre persönliche Freiheit bedroht.

Wie die mehr als 300 Kurzbiographien von zahlreichen Historikern aus diesen Jahren belegen, befanden sich insbesondere unter den westdeutschen nicht wenige, die sich vorher für den Nationalsozialismus engagiert und dabei Karriere gemacht hatten. Die Wuppertaler Leser wird interessieren, dass, wie bereits Uwe Eckardt einmal kritisch angemerkt hat, dazu auch ein Mann gehört, der nach 1945 als „Nestor der bergischen Geschichtsforscher“ bezeichnet, zum Ehrenmitglied des Bergischen Geschichtsvereins ernannt und mit einer Festveranstaltung im Von-der-Heydt-Museum geehrt wurde, obwohl er bereits vor 1933 aus seiner Liebe zur NS-Ideologie kein Geheimnis gemacht hatte und nach der Machtergreifung Landesleiter der Reichsschrifttumskammer gewesen war. Für andere Beispiele aus Wuppertal stehen die Namen Wolfgang Abendroth, Jürgen Kucynski und Peter Rassow.

Die Arbeit exemplifiziert die Auseinandersetzung am Beispiel hauptsächlich eines Ereignisses aus dem Jahr 1923, das als Epochenjahr oder, wie der Verfasser formuliert und belegt, als „Scharnierjahr“ der deutschen Geschichte (Ruhrbesetzung und Passiver Widerstand/Hyperinflation/Schlageter/Separatistenaufstand im Rheinland/Hitlerputsch) angesehenen wird, nämlich des Kommunistenaufstands in Hamburg und insbesondere der Reichsexekution gegen die demokratisch gewählte sozialistische SPD/KPD-Regierung unter dem Ministerpräsidenten Zeigner in Sachsen (die Aktualität hinsichtlich der ersten rot-roten Regierung in Thüringen war während der Bearbeitung des Themas noch nicht abzusehen).

Die Lektüre des in gepflegter Sprache und doch mit flotter Feder geschriebenen Werkes, die auch kritisch-polemisch zuzuspitzen weiß, wird leicht gemacht, weil der Verfasser zu Beginn jedes neuen Kapitels das Ziel nennt, das er anstrebt, und auch den Weg weist, auf dem er dieses zu erreichen beabsichtigt; am Schluss steht das Resümee. Treffend formulierte Zwischenüberschriften setzen Akzente und lockern die Textblöcke auf, bieten jedoch zugleich wichtige Informationen zum Inhalt. Relevante Sachbestände werden in sogenannten „Stichworten“ erörtert und in ihren Bedeutungen eingegrenzt. dohmen_träume

Obwohl der Verfasser deutlich zu erkennen gibt, wem seine Sympathien gelten, lässt er beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren. So deutlich wird, dass (auch) Historiker Kinder ihrer Zeit sind, so klar wird auch, dass sie nichts daran hindert, mit offenen Augen und mit wachem Geist sowie kommunikativ die Vergangenheit so zu erforschen und darzustellen, dass deren wirkliche Struktur erkennbar und bewertbar wird. Die These, dass, was beispielsweise die westdeutschen Wirtschafts- und Sozialhistoriker früh erkannt und anerkannt haben, dass nämlich auch Historiker in der DDR beachtenswerte Beiträge zur Erforschung der deutschen Geschichte geleistet haben und auf manchen Feldern der Historiographie Pioniere waren, das dürfte nach der Lektüre dieser Veröffentlichung außer Zweifel stehen.

HORST A. WESSEL

Vorabdruck aus der Zeitschrift Geschichte im Wuppertal. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der vom Bergischen Geschichtsverein herausgegebenen Publikation.

 

Matthias Dohmen, Geraubte Träume, verlorene Illusionen. Westliche und östliche Historiker im deutschen Geschichtskrieg, Wuppertal: Nordpark 2015 (= Nordpark Wissenschaft), ISBN 978-3-943940-10-7, Euro 18,50, www.nordpark-verlag.de.

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