Buch des Monats März: Mühls „Totenwache“

„Nun kommt schon die Nacht.“ Karl Otto Mühl wirft einen Blick zurück auf alte und neue Freunde. „Totenwache“ ist unser Buch des Monats März.

Manchmal täuscht man sich, und Menschen, von denen man glaubt, dass sie keine hohe Meinung über jemanden haben, verehren ihn in Wirklichkeit. Wie bei jenem verstorbenen Freund, dem Karl Otto Mühl in der ersten von insgesamt zwei Dutzend Geschichten ein Denkmal gesetzt hat. Erst nach dem Tod von Walter Knorr, einem offensichtlich ewigen Besserwisser, erfährt der Überlebende, dass jeder Brief, der geschrieben wurde, aufbewahrt worden ist. „Für mich sind alle meine verstorbenen Freunde Helden, weil ich sie kämpfend untergehen sah. Einige, die noch leben, sind bereits dabei, es zu werden“, räsoniert der Autor auf S. 11.

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In der Skizze über den Ingenieur, Schriftsteller und Kollegen der Künstlergruppe „Der Turm“, Jürgen Windgassen, steht der elektrisierende Satz, mit dem der Sinn und Zweck jeder schriftlichen Kommunikation und eines jeden Buchs beschrieben wird: „Wovon gar keiner weiß, was kein anderer erfährt, scheint eben doch nicht wirklich wahr zu sein“ (S. 20). Der Gründer der Vereinigung war Paul Pörtner, weitere Mitglieder Tankred Dorst und Harald Leipnitz sowie ein paar Menschen, deren Namen heute nur noch Wenige kennen. Mühl zurückblickend: „Eine Epoche ist vergangen, eine und einer nach dem anderen sind gestorben“ (S. 89).

Einige der Freunde des seit langem im Uellendahl lebenden und im nächsten Monat mit dem Rheinland-Taler geehrten Literaten sind schwer gezeichnet, liegen im Koma und sind, allgemeiner formuliert, Pflegefälle. Erschütternd auch der „Fall“ eines Berufskollegen, der seine Zeit, als er auf der Napola war, der NS-Schule mit Namen Nationalpolitische Lehranstalt, nach 1945 nicht mehr abschütteln kann und einem „Leben ohne Hoffnung“ mit dem Freitod ein Ende setzt (S. 45). In der kurzen Schlussbetrachtung kommen alle „unsterblichen Akteure“ „noch einmal auf die Bühne“ und erklären nicht, wer sie selbst, wohl aber wer Karl Otto Mühl ist: „Sie schauen dich an und hören deine Frage: Warum sei ihr überhaupt gekommen? Warum wart ihr da, bei mir?“ Nächster Satz: „Du hast uns gerufen, sagen sie.“ Und: „Du wollest wissen, wer du bist“ (S. 101).

Hoffnung hält den Menschen aufrecht. In den „Abschiedsversen“, mit denen das Buch beginnt (S. 7), heißt es:

Der an der Biegung,
er blickte herüber,
dann war er fort –
ach ja, das warst du!

Auch ich vergehe.
Die mich erinnern,
vergehen mit.

Wir treiben auf Wellen
beim Untergang.
Bald deckt uns alle
wogendes Grün.

Nun kommt schon die Nacht.
Doch nie verlässt uns
das Heimweh
nach unseren Kindern.mühl_totenwache

MATTHIAS DOHMEN

Karl Otto Mühl, Totenwache. Abschiede, Bochum: Brockmeyer 2015, ISBN 978-3-8196-0981-7, 104 S., Euro 9,90, www.brockmeyer-verlag.de.

 

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