November-Blues 2020

In einer losen Reihe fragen wir Theolog_innen nach ihren Gedanken zur Corona-Pandemie. Heute mit[nbsp] Oberkirchenrätin Barbara Rudolph.

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Das Gespräch ist fast zu Ende, als ich dazukomme. Die Stimmung ist trüb: „Wir reden gerade über unseren November-Blues“, werde ich informiert.

Die Einschränkungen des „Lockdown light“ sind in aller Munde, und ich spüre, es trifft die Menschen und auch mich im November anders als im März: Die dunkle Jahreszeit hat begonnen.

Der Schock des Märzes ist der Ermüdung gewichen. Manchen fällt der November schon in normalen Zeiten schwer. Weniger Helligkeit und trübe Stimmung in der Natur schlagen sich auf die Seele nieder.

November-Blues in der Bibel

„Haben die Menschen verlernt zu warten?“, fragt mich ein Journalist in diesen Tagen. Nun, zu warten ohne eine konkrete Perspektive, ist den Menschen nie leichtgefallen: „Ich bin wie eine Eule in der Einöde, wie das Käuzchen in den Trümmern. Ich wache und klage, wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.“ So steht es in Psalm 102 – November-Blues in der Bibel. Die Sorgen, Gefühle und Erfahrungen dieses Novembers finden in der Bibel eine anschauliche Sprache für die dunklen Phasen im Leben.

November-Blues im christlichen Glauben

Die Kirche stellt sich der dunklen Seite des Lebens, gerade im November. Er ist geprägt von Gedenktagen: So beginnt der November in der katholischen Kirche mit dem Gedenken an die Verstorbenen zu Allerheiligen bzw. Allerseelen und endet in der evangelischen Kirche mit dem Totensonntag.

Es ist eben nicht einfach: der Verlust von vertrauten Menschen, die Traurigkeit und Verunsicherung auszuhalten.

Auch andere Tage im November geben der schweren Seite des Lebens Raum: Der Volkstrauertag erinnert an die Opfer der Kriege, der Buß- und Bettag setzt sich mit der Schuld auseinander, und der 9. November stellt sich der Pogromnacht, als in Deutschland die Synagogen brannten.

November-Blues als Lebenshilfe

Blues ist ja eigentlich eine Musikform aus Amerika. Aber er ist mehr. Das Wort erinnert an den englischen Ausdruck „I‘ve got the blues“, auf Deutsch: „Ich bin traurig.“ Die Texte in den Anfängen des Blues um 1900 befassen sich mit den traurigen Erfahrungen der Afroamerikaner. (Auch das passt in diesen November 2020.)

Beim Nachdenken über den Blues mache ich eine Entdeckung: Der Blues ist Grundlage vieler Musikrichtungen geworden und hat Spuren in Jazz, Rock, Soul bis zum Hip-Hop hinterlassen, seine Akkorde und Harmonien wurden später nicht nur für traurige, sondern auch für kämpferische und fröhliche Themen verwendet.

Das ist doch kein schlechtes Bild für den November-Blues: Wer sich der traurigen Akkorde des Lebens stellt, findet einen Zugang auch zu den anderen Tönen des Lebens. Aus der Trauer erwächst das Leben in allen Facetten. Darum werden im dunkler werdenden November Lichter zu den Gräbern getragen.

Das Gedenken an die Toten von Krieg und Diktatur wird in der Friedendekade mit dem Aufruf für Frieden und Versöhnung verbunden. Und zum Totensonntag wird die Perspektive auf die Ewigkeit gerichtet.

November-Blues als Pilgerlied

Und zum Schluss ganz praktisch: Im Psalm 121 findet sich die Frage vieler Menschen dieser Tage: „Woher kommt mir Hilfe?“ Es ist ein Pilgerlied. Und mit jedem Schritt des Pilgers, mit jedem Satz des Psalms wächst die Zuversicht: „Gott wird deinen Fuß nicht gleiten lassen. Gott schläft nicht. Gott ist wie ein Schatten über deiner rechten Hand. Die Sonne am Tag und der Mond in der Nacht sollen dich nicht stechen. Gott behütet dich. Gott behütet deinen Ausgang und Eingang.“

Sicher haben Unternehmen und Menschen in diesen Tagen konkrete Hilfe nötig. Aber vielen, die der November-Blues ergreift, ist vielleicht schon das eine Hilfe: den November-Blues in ein Pilgerlied zu verwandeln.

Im Pilgerlied wird Schritt für Schritt besungen, dass Gott seine Zusagen hält, auch und gerade in dunklen Zeiten. Dass Pilgern den Glauben stärkt, ist ein altes, wiederentdecktes Wissen. Durch Bewegung entsteht Kraft: für Körper, Leib und Seele. Und ganz nebenbei: Medizinerinnen und Psychologen empfehlen in der trüben Jahreszeit tägliche Spaziergänge.

Der Beitrag ist bereits erschienen unter praesesblog.ekir.de

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