Versuch eines Neuanfangs

Unser Buch der Woche: Mit dem Wechselspiel von äußerer und innerer Schriftstelleremigration 1933-1945 hat sich eine hochkarätig besetzte Konferenz beschäftigt. Ein Schwerpunkt: Ernst Wiechert.

Die Tagung hieß „Schriftsteller in Exil und Innerer Emigration – Widerstandspotentiale und Wirkungschancen ihrer Werke“ und fand vom 17. bis 19. November 2017 im polnischen Łódź statt. Veranstalter war die Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft, benannt nach dem bekanntesten Vertreter der „zuhause“ gebliebenen antifaschistischen deutschen Schriftsteller, den die Nationalsozialisten ins Konzentrationslager steckten und dem Chefpropagandist Joseph Goebbels in persona mit der „physischen Vernichtung“ drohte. Enttäuscht von den Ereignissen im Nachkriegsdeutschland, suchte der bekannte Romancier und Novellist die letzten Lebensjahre in der Schweiz Zuflucht.

Der Vorteil dieser Veröffentlichung: Man erfährt in gedrängter Form Dinge, die man sich ansonsten mühsam in tausend Bibliotheken und Büchern erlesen muss, etwa über die „Völkerbund“-Resolution von Hermann Broch (1936/37) und den Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“ der weitgehend vergessenen Hermynia Zur Mühlen, die letzten Arbeiten Stefan Zweigs, die unvergessenen Romane Arnold Zweigs und die „Malergeschichten“ von Johannes Wüsten („Wenn ich nachher nicht mehr da sein sollte, sorgt dafür, dass sie gedruckt werden. Ich möchte doch, dass die Deutschen sie lesen“).

Mehrere Beiträge befassen sich mit österreichischen Autoren wie Josef Weinheber und Joseph Roth oder werfen ein Licht auf die „Debatten der Nachkriegszeit“, speziell auf Günther Anders, Ursula Krechel, Ilse Langner, Thomas Mann und Melita Maschmann. Im vielleicht ergiebigsten Kapitel, „Innere Emigration oder Anpassung?“, stehen Beiträge über Stefan Andres („El Greco malt den Großinquisitor“, zum Literaturkanon deutscher Gymnasien der 1960er-Jahre gehörig), Friedrich Reck-Malleczewen, Ubbo-Emmius Struckmann und Leo Weismantel. Verglichen werden anhand ihrer Tagebücher Michael Bulgakow und Jochen Klepper, der insofern etwas aus dem Rahmen fällt, als er dem NS-System nahestand. Trotz persönlicher Intervention bei Reichsinnenminister Frick und bei Adolf Eichmann konnte er seine jüdische Stieftochter Renate nicht retten, woraufhin sich die Familie kollektiv das Leben nahm.

Drei Aufsätze beschäftigen sich mit Ernst Wiechert, den die Nazis eine Zeitlang glaubten, als einen der ihren vereinnahmen zu können, der aber schnell aus einem Umworbenen zu einem Beobachteten wurde, vor allem nach seiner mutigen Rede an der Münchener Universität über den „Dichter und die Jugend“ gleich 1933. Über die Zeit im KZ Buchenwald hat er den „Totenwald“ geschrieben, der den späteren DDR-Kulturminister Johannes R. Becher so stark beeindruckte, dass er bei seiner ersten „Werbetour“ für den neuen „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ (Gesamt-Deutschlands) in die westlichen Besatzungszonen den Pfarrersohn auf dessen Bauernhof in Oberbayern aufsuchte (eine Geschichte, die andernorts noch zu schreiben wäre). Leonore Krenzlin schreibt über Wiechert im KZ: „Sein sozialer Hochmut verging, als er die Solidarität der ‚einfachen’ Häftlinge kennen lernte und nötig hatte. Sein ausgeprägter Antikommunismus wurde ihm fragwürdig, als er auch mit kommunistischen Lagerinsassen bekannt wurde und mit ihnen ins Gespräch kam. Vor allem aber zerbrach Wiecherts bis dahin intakter Vaterlandsbegriff“ (S. 103). War tatsächlich das „Zerwürfnis“ der exilierten und der nichtexilierten Schriftsteller, wie auf S. 9 behauptet, unausweichlich? – Bleibt der wohl unerfüllbare Wunsch an die Herausgeber, einem so wertvollen Band ein Personenregister mitzugeben.

MATTHIAS DOHMEN

 

 

Marcin Gołaszewski/Leonore Krenzlin/Anna Wilk (Hrsg.), Schriftsteller in Exil und Innerer Emigration. Literarische Widerstandspotentiale und Wirkungschancen ihrer Werke (= Schriften der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft, 6), Berlin: Quintus/Verlag für Berlin-Brandenburg 2019, ISBN 978-3-947215-38-6, 383 S., Euro 24,00, www.quintus-verlag.de.

 

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