Was wir vergessen, haben wir nicht erlebt

„Nachbeben“ heißt unser Buch der Woche. In ihm erzählen zwei Dutzend Menschen ihre persönliche Geschichte von Krieg und Nachkrieg in Deutschland.

In der Tat: „Es geht um Geschichte, um Deutungshoheit, um die DDR“, wie die Mitherausgeberin des hier anzuzeigenden Buchs, Katja Gäbler, einleitend schreibt (Seite 7). Zurückblickend rapportieren zwei Dutzend Personen, über deren Auswahl keine Rechenschaft gegeben wird, Kindheit, Jugend und Reife, wie die Hauptkapitel heißen. Da steckt wahnsinnig viel Arbeit drin, und es ist sehr sorgfältig gearbeitet worden. In dem Band zu blättern oder einzelne Personen abzuarbeiten, ihre Lebensläufe miteinander zu vergleichen, lohnt sich. Die wissenschaftliche Verarbeitung lässt allerdings zu wünschen übrig.

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Wo liegt das Gemeinsame der sich darstellenden Personen? Sie sind vor 1945 geboren, also vor „Niederlage und Befreiung“ (Richard von Weizsäcker), sie sind geflohen (von Ost nach West, wobei der Osten Polen und der Westen DDR heißen kann), sie sind nicht selten Großgrundbesitzer, Adel, Herrscher auf großen Gütern und oftmals den Nationalsozialisten mehr als nahe.

Auf Johannes Oehme trifft das nicht zu. Sein Volksschullehrer war zwar ein „überzeugter Nazi, er herrschte mit strengster Disziplin, ebenso am Nachmittag, wenn er uns Pimpfe führte“ (S. 104). Nun ja, er floh 1945 in den ihm freundlicher vorkommenden Westen. Oehme engagiert sich dagegen in der DDR: „Wir haben geglaubt, dass man im Sozialismus frei ist von Ausbeutung“ (S. 201). Das bringt ihm jedoch den Tadel der Herausgeber ein: „Er scheint bis heute nicht in der Bundesrepublik angekommen zu sein“ (S. 21).

Sehr selbstkritisch gibt der in Wuppertal lebende Schriftsteller Wolf Christian von Wedel Parlow Rechenschaft über sein bisheriges Leben. Das Lebensideal der Wedels beschreibt er so: „Das Beste ist Gutsbesitzer, das Zweitbeste Offizier und das Drittbeste Beamter“ (S. 108). Der ostelbische Adel wusste seine reaktionäre Haltung fast perfekt mit dem preußischen „Pflichtgefühl“ zu kaschieren – einem Ethos, dem wir allerdings auch in mancher Biographie von Offizieren des 20. Juli begegnen. Wedel, der sich immer wieder kritisch-selbstkritisch mit der eigenen Geschichte befasst („Meine Auseinandersetzung mit unserer Familie begann auf dem Familientag 1963“, S. 303), wusste sehr früh, „dass ich als Sohn einer solchen Familie in meinem Leben etwas leisten müsse, das meiner Verantwortung für die Allgemeinheit gerecht würde“ (S. 204 f.).

Von solchen Zeugnissen kann es nicht genug geben.

Leider muss die wissenschaftliche Erschließung der Texte vom Leser geleistet werden. Trotz Vor- und Nachworten: Nur eine knappe Seite (32 f.) ist Gäbler und Fabian Wehner zur Zielsetzung des Unternehmens eingefallen. Keine Antwort gibt es auf die Frage, ob die Dargestellten zufällig in das Buch geraten oder doch Mitglieder einer großen Familie sind. Und warum hat es nicht wenigstens im Epilog für eine systematisierende Zusammenfassung gereicht?

Nicht ganz unproblematisch ist im Übrigen die assoziative Gleichsetzung von Faschismus und Untergang der „Wilhelm Gustloff“ mit dem Erdbeben von Valdivia 1960 (unter anderem S. 18), was beim Buchtitel Pate gestanden hat. Und ob für Deutschland ein Tor in die Zukunft geöffnet ist, wenn ein „Opfer“ der Bodenreform der frühen „Zone“ heute wieder „über die mir so bekannten Felder“ spaziert, „über die ich 50 Jahre nicht laufen konnte“ (S. 19), darf hinterfragt werden.

Doch der schönste Satz steht auf S. 29: „Was wir vergessen, haben wir gar nicht erlebt.“

MATTHIAS DOHMEN

 

Katja Gäbler/Fabian Wehner, Nachbeben. Begegnungen mit deutschen Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts, Berlin: Duncker & Humblot 2015, ISBN 978-3-428-14826-4, 344 S., Euro 29,90, www.duncker-humblot.de.

 

 

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