Buch der Woche: Birgit Ohlsens „Wuppertaler Auschwitz-Prozess“

Die blutige Spur des „Blinden“, Aufseher in Auschwitz, zeichnet die Autorin nach: in ausgewählten Mitschriften des Verfahrens von 1986 bis 1988 sowie einem Vor- und einem Nachwort.

Des mehrfachen Mordes war der 1921 im sächsischen Waldenburg geborene Ewald Franz Gottfried Weise angeklagt. Der Leser wirft einen Blick in die Abgründe der Rassenpolitik der NSDAP und ihrer Mitwisser und Mittäter sowie derjenigen, die sie im In- und Ausland, oftmals auch im Nachhinein, deckten und gedeckt haben.

Die Lagerinsassen galten als Ungeziefer. So wie jener polnische Staatsangehörige, der sich vor dem Wuppertaler Landgericht so erinnert: „Wissen Sie, ein Mensch galt dort weniger als eine Fliege.“ Mit Blick auf einen aus wohl „zufälligem“ Anlass niedergeschossenen Häftling: „Es war mehr oder weniger Glück, auf eine solche Weise umzukommen … Daher liefen auch viele Leute in die Drähte“ (Seite 69). Die Insassen der Lager wurden durch übermäßige Arbeit, Schikanen ohne Ende, miserable Ernährung sowie erschütternde soziale und hygienische Bedingungen herabgewürdigt. „… längst ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen aufgehoben“ (Ohlsen, S. 12). Einem Kind, das bettelt und weint, weil es etwas zu essen haben will, werden von einem SS-Schergen Konservendosen auf beide Schultern und den Kopf gestellt und heruntergeschossen.

Die „Belohnung“, auf der etwa Acht- bis Zehnjährige hoffte, sah, wie sich eine ungarische Zeugin erinnert, so aus: „Das Kind kam zurück und dachte, nun gäbe es etwas zu essen. Da hat er“, der „Blinde“, „es mit der Pistole erschossen, und, als es tot war, gab er ihm noch einen Fußtritt“ (S. 75).

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Während des gesamten Verfahrens legt der Angeklagte ein zynisches Verhalten an den Tag: Er grinst (S. 92 et al.), scheint amüsiert und tickt wieder lässig mit dem Kuli auf die Tischplatte (S. 28 et al.).

Mehr als bezeichnend sind die undeutlichen und mehrdeutigen Antworten, die der SS-Obersturmführer Gerd K. und der Waffen-SS-Mann Eduard L. vor Gericht machten: Nichts gesehen, nichts gehört, Gerd K. kann sich nicht einmal an eine so markante Person wie den Blinden (oder Einäugigen, er hat eine Auge vor Moskau verloren) erinnern. Und Verantwortung trugen immer nur die anderen, die nicht Anwesenden. So wie man es ja aktuell im Zschäpe-Prozess erlebt.

Die Autorin, Birgit Ohlsen, hat an dem NS-Verfahren in Wuppertal teilgenommen und legt Auszüge aus ihren vor Ort niedergelegten Aufzeichnungen vor. Bislang ist sie mit hauptsächlich im Wiesenburg-Verlag erschienen Erzählungen und Romanen hervorgetreten. Das hier besprochene Buch wirft nicht unbedingt ein neues Licht auf den Wuppertaler Auschwitzprozess, ist aber dennoch notwendig, weil sehr eindringlich. Zahlreiche Anmerkungen erlauben es dem Leser, vieles zu verstehen, was in den Zeugenaussagen undeutlich bleibt (oder auch bleiben soll). Hervorzuheben ist ein rund 20 Titel umfassende Literaturverzeichnis. Gut getan hätten der Publikation ein Personenverzeichnis und ein Glossar, das auch die eine oder andere Fußnote überflüssig gemacht hätte.

Die in ihrer Wahlheimat Berlin lebende und schreibende Autorin hat dem Buch eine Vorbemerkung vorangestellt, die an dieser Stelle wörtlich zitiert sei: „Gewidmet dem Andenken an Jacob de Hond, einem der wenigen Überlebenden des Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau. Dir mit eigenen Augen, am eigenen Leib erfahrenen Abgründe menschlichen Denkens und Handelns konnten seine grundsätzlich lebensbejahende Haltung nicht brechen: Het leven is moii – das Leben ist schön! Trotz alledem.“

 

MATTHIAS DOHMEN

 

Birgit Ohlsen, Der Wuppertaler Auschwitz-Prozess (1986-88). Ausgewählte Mitschriften, Wuppertal: Nordpark 2015, ISBN 978-3-943940-15-2, 54 S., Euro 12,00, www.nordpark-verlag.de.

 

 

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Kommentare

  1. Thorsten Sippel sagt:

    … und den Preis dann auch gleich mit. Nochmals Danke!

  2. Thorsten Sippel sagt:

    Bitte die Web Adresse des Verlags korrigieren. D AN K E !!!

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