Buch der Woche: Der „Reichstag“ in Heiligenhaus

Früher hätte man gesagt: Luise Jacobs' "Der Mann mit dem Hut" ist ergreifend. Selten ist der Einbruch des nationalsozialistischen Terrors in eine ganz normale jüdische Familie so schonungs- und schnörkellos geschildert und dokumentiert worden.

Für einen Wuppertaler ist die Publikation darüber hinaus von besonderem Interesse, als sich die Geschichte der Familie Jacobs im nahe gelegenen Heiligenhaus abgespielt hat.

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Auf dem Cover, einer Montage, sieht man den Vater der Autorin und sie selbst als kleines Kind. Sie erzählt in ihrem Buch die Geschichte ihres Großvaters Salomon Jacobs, der in Heiligenhaus geboren wurde und aufgewachsen ist, und ihres Vaters Artur Jacobs. Salomon arbeitet als Klempner, die Familie ist beliebt in der Stadt.

Der Arbeitsplatz hinter seinem Haus wird von den Dorfbewohnern „Reichstag“ genannt: Dort treffen sich samstagsnachmittags die Männer und diskutieren mit Salomon über Politik. Nach dem Ersten Weltkrieg ändert sich die Situation dramatisch. Der wirtschaftliche Zustand verschlechtert sich, und die antijüdische Stimmung wächst.

Salomon bemerkt es bei der Arbeit: Erst kommen weniger Kunden, später bleiben sie ganz weg. „Sie werden doch sicher nicht mit einem Juden über Politik reden!“
Salomon stirbt 1935. Noch vor Ende des Jahres 1942 werden alle seine Kinder und zwei seiner Enkelkinder ermordet. Sein Sohn Artur wird im Dezember 1936 verhaftet. Nach Aufenthalten im KZ Sachsenhausen, im KZ Dachau und im KZ Neuengamme wird er für Schloss Hartheim selektiert. Dort wurden 30.000 Menschen mit Kohlenmonoxid vergast.

Jacobs-Hut

Die einzelnen Kapitel sind kurz und eindringlich, die beigefügten Dokumente und Fotos verstärken die Betroffenheit – ein Wort, das an dieser Stelle passt. Allein auf den Stammbaum (Seite 8 f.) ließe sich eine Schulstunde verwenden: Von den 19 Personen sind einige eines normalen Todes gestorben, bei den anderen steht als Sterbeort Stuthof, Minsk oder Auschwitz, in einem Fall sogar mit Fragezeichen. Es wird sich nicht mehr herausfinden lassen.

Gewissermaßen verbrieft – ein Beispiel für viele – ist die „Aso“-Aktion 1938, bei der fast 6.000 Männer nach Sachsenhausen verbracht werden, die in den Augen der Nazis „Asoziale“ waren und damit nicht wert, auf deutscher Erde zu leben. Im Konzentrationslager erhalten sie einen braunen (später: schwarzen) Winkel. Auspeitschen der Neuankömmlinge in kalter Nacht: „Die Opfer werden durch Abzählen ausgesucht, mal jeder zehnte, mal jeder fünfte oder auch jeder fünfundzwanzigste“ (S. 68 f.). Nur keine Willkür!

Erst 60 Jahre nach der Katastrophe, die eine ganz normale Familie in den Abgrund riss und die Überlebenden um die ganze Welt zerstreute, war es der Autorin möglich, Nachforschungen über den Mord an dem Mann mit Hut anzustellen. Kürzlich hat die am 28. März 1933 Geborene das Buch in der Begegnungsstätte Alte Synagoge vorgestellt.

 

MATTHIAS DOHMEN

 

 

Luise Jacobs, Der Mann mit dem Hut. Für Artur Jacobs begann der Holocaust 1936 in Heiligenhaus, Essen: Klartext 2014, ISBN 978-3-8375-1295-3, 197 S., Euro 17,95, www.klartext-verlag.de.

 

 

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