Buch der Woche: Helene Stöckers Lebenserinnerungen

Eine Entdeckung: Lesestoff vom Feinsten bilden die Aufzeichnungen der in Wuppertal geborenen und aufgewachsenen Frauen- und Friedensaktivistin.

Pünktlich zum einhundertsten Jahrestag der Gründung der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) erscheinen Helene Stöckers Memoiren und Tagebucheinträge in einer vorbildlichen Edition, die neben deren eigenen Texten einen längeren Beitrag, der ihr Leben in ihre Zeit einordnet, eine Einleitung, 30 Seiten Dokumente, Kurzbiographie, Personen- und Ortsverzeichnis sowie zahlreiche Abbildungen umfasst: Eine seriöse Veröffentlichung mit über tausend Fußnoten, die aber nie trocken und wissenschaftslastig über kommt.

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Eindringlich schildert Stöcker die erste große Katastrophe des kurzen 20. Jahrhunderts: „Die Kriegspsychose hat wieder Millionen Menschen erfasst, in der sie alles Gute nur bei sich und alles Böse beim politischen Gegner sehen“ (Seite 186). Zum Hinscheiden des großen französischen Sozialisten bemerkt sie am 1. August 1914, Jean Jaurès sei „ermordet. Der Hort des Friedens … Das Völkermorden kann also beginnen“ (S. 188).

Wie aktuell das klingt, was sie am 3. August niederschreibt: „Mir graute, als ich … auf der Straße die Menschen einem vermeintlichen Russen nachlaufen sah. Es ist wie bei den russischen Judenpogromen. Sowie die Leidenschaften aufgewühlt sind, zeigt sich die menschliche Bestialität“ (S. 189). Illusionen, Illusionen: „Helmut von Gerlach berichtete, die sozialdemokratischen Abgeordneten seien sehr froh, weil sie glauben, durch ihre Kreditbewilligung die Partei gerettet zu haben“ (am 9., S. 190). Drei Wochen später: „Sieg über Engländer. Wir haben alle Tage irgendwelche Siege. Aber das behaupten die anderen auch. Wo ist Wahrheit?“ (S. 191). Die Phantasie kommt mit den realen Ereignissen nicht mit – zu Beginn des Kriegstagebuchs heißt es: „In den ersten Monaten des Jahres 1914 hat wohl nur ein sehr kleiner Bruchteil der Menschen geahnt, was sich im Lauf der nächsten Monate ereignen würde“ (S. 187).                                                                 stöcker

Viel Wuppertal zwischen zwei Buchdeckeln: Es ist mal wieder die Armin-T.-Wegner-Gesellschaft, der ein gewichtiges Buch seinen Druck verdankt (neben anderen). Und wer erfahren will, wes Geistes Kind die Elberfelder Reformierten im letzten Drittel des „langen“ vorvorigen Jahrhunderts waren, kann dies in Stöckers Annotationen nachlesen (S. 43).

Stöcker steht für den von ihr gegründeten Bund für Mutterschutz, die Deutsche Friedensgesellschaft und den Bund Neues Vaterland, die Deutsche Liga für Völkerbund, die Deutsche Liga für Menschenrechte und die Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland. Der 1869 als Tochter eines Textilfabrikanten geborenen Lehrerin und promovierten Literaturwissenschaftlerin aberkannten die Nazis 1938 die deutsche Staatsbürgerschaft. Stationen der letzten Jahre: London, Stockholm, Wladiwostok, Yokohama, San Francisco. Gestorben ist Helene Stöcker am 23. Februar 1943 in New York.

 

 

MATTHIAS DOHMEN

 

 

Helene Stöcker, Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin. Hrsgg. von Reinhold Lütgemeier-Davin und Kerstin Wolff, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015 (= L’Homme Archiv, 5), ISBN 978-3-412-22466-0, 390 S., Euro 39,90, www.boehlau-verlag.com.

 

 

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