Buch der Woche: Rauschtenbergers Sibirien-Bericht

Mit Peter Kowald ins Herz des asiatischen Kontinents: Mehr als eine Zeitreise, wie es Heiner Bontrup in seinem Vorwort meint.

Neben Kowald nehmen an dem Trip Heike Hölter, eine Malerin, Sainko Namchylak, eine Sängerin, und ihr frisch angetrauter Saxofon- und Klarinettenspieler namens Georg Graf sowie der Schlagzeuger Dietrich Rauschtenberger teil, der mit Fotos und Notizen heimkehrte, aus denen er jetzt den Reisebericht gestaltet hat. Es handelt sich um „eine Zeitreise in die Sowjetunion kurz vor ihrem Zerfall“, wie Bontrup auf Seite 9 schreibt. Alles dreht sich um das Global Village, das weltweite Netzwerk von Kulturschaffenden, mit dem Brücken gebaut – und nicht vernichtet – werden.

Wir schreiben das Jahr 1991, als die glorreichen Fünf mitternächtlich in den Paris-Moskau-Express einsteigen, der sie in 30 Stunden in die russische – damals noch sowjetische – Hauptstadt bringt. Ab dort begleitet sie die Tourmanagerin Saisana. Prompt spricht ihn, Rauschtenberger, ein Gepäckträger, der auf Valuta scharf ist. Halblaut. Offenbar „will er nicht, dass ihn jemand hört. Ein Land voller Heimlichkeiten“ (S. 23).                   rauschtenberger

Wenn die Gäste aus dem Fenster der Transsibirischen Eisenbahn schauen, blicken sie auf Dörfer mit unbefestigten Straßen und auf die Katen mit ihrem „unverwechselbaren sozialistischen Kolorit, das entsteht, wenn schlechte Farbe sehr lange nicht erneuert wird“ (S. 37). Großartig die Porträts der Einheimischen, etwa des Vaters von Sainko: „Dieser gastfreundliche Mann war einer der Soldaten, die ihre Heimat an der 6.000 Kilometer entfernten Front gegen die deutschen Eroberer verteidigt haben und von der nationalsozialistischen Kriegspropaganda als asiatische Horden beschimpft worden sind“ (S. 55). Sie sind in Kysl, der Hauptstadt der autonomen Sowjetrepublik Tuwa, deren Justizminister im zweiten Stock eines ganz normalen Wohnblocks lebt und mit dem sie Tschagatai-See besuchen, wo die Zeit stehen geblieben scheint (S. 67) – eine Szene, die an Schilderungen erinnert in Romanen des großen kirgisischen Dichters Tschingis Aitmatow.

Sinn-Bilder! Der angetütterte Kowald hält sich in seinem Hotelzimmer an einem Tisch fest, der nur noch drei Beine hat, und sagt zu seinem Drummer: „Der Sozialismus bricht zusammen“ (S. 63).

Und die Frauen! Wie Sainko und ihre kluge Mutter, die Schaffnerin (Foto auf S. 24) oder Ritta, mit der es dann doch nicht klappt (S. 33-35), oder die kleine Lesley, die „sieben Tage in einem Abteil mit drei furzenden Männern verbringen“ muss und der Rauschtenberger zuvor geholfen hat, ihr dope zu verstecken, weil auch sie zwar nach Sibirien will, aber nicht unbedingt in ein Lager (S. 29 und S. 19).

Das Druckwerk kann man getrost als Bildband betrachten und die Kapitel als Bildtext dazu lesen. Oder umgekehrt. Der Rezensent kann sich jedenfalls nicht entscheiden. Eine Veröffentlichung mit viel Kolorit, Humor und Völkerkunde über die hartnäckigen Versuche von Künstlern wie Peter Kowald, mit ihren Mitteln die Welt ein wenig friedlicher zu machen. Vielleicht kommt das von HP Nacke sorgfältig gestaltete Buch bei aller scheinbaren Verspätung punktgenau zur rechten Zeit.

MATTHIAS DOHMEN

 

Dietrich Rauschtenberger, Mit Kowald in Sibirien. Eine Reise zum Mittelpunkt Asiens, Wuppertal: HP Nacke 2015, ISBN 978-3-942043-60-1, 89 S., Euro 12,80, www.hpnackekg.de.

 

 

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