„Brudertod“ Buch der Woche

Eine schonungslose, die Würde der beschriebenen Personen aber penibel achtende Bilanz seiner Familie zieht in einer beeindruckenden "confessio" der Wuppertaler Schriftsteller Michael Zeller.

Mehr als ein halbes Jahrhundert hat es gebraucht, ehe sich der Autor an den Stoff herantraute, den er bislang nur, verstreut über Romane und andere Werke, verschlüsselt und mehr episodisch verarbeitet hat. Hellmut heißt der Bruder, der, gerade 17 geworden, von eigener Hand aus dem Leben scheidet. Zellers leiden an den politischen Zuständen, die tief in ihre Existenz eingreifen und eine heile Breslauer Welt zerstören: der Vater vermisst, dessen beide Brüder für Volk, Vaterland und den Führer gefallen.

Vor der andrängenden Roten Armee fliehen Zellers Mutter und die drei Buben in das süddeutsche Dorf, aus dem der Vater stammt. Heimisch werden sie dort nicht: „Für die Eingeborenen, inklusive der väterlichen Familie, waren und blieben wir Fremde. Wir kamen aus dem Osten, aus der Großstadt. Wir rochen nach Krieg und Unglück. Wir waren arm wie die Sünde und gingen noch nicht mal in die Kirche“ (S. 15).

Während Michael, der Jüngste, sich recht gut einlebt, hadern die anderen mit ihrem Schicksal: „Bei Mutter und den beiden Brüdern war das anders. Sie lebten hier ständig im Verlust“ (S. 18).

Behutsam schildert Zeller seine Eltern: die Mutter, die – gerne auch gegenüber den Kindern – das Datum ihrer Eheschließung den „schwärzesten Tag“ ihres Lebens nennt, mit dem ihr „ganzes Unglück“ anfing (S. 27), und den Vater, der für Joseph Goebbels arbeitet und sich für einen „anständigen Mann und fanatischen Deutschen“ hält, gleichwohl er Abstand zu den totalitären Praktiken des Naziregimes hält, 1935 einen für den in seiner Existenz gefährdeten Kabarettisten Werner Finck relativ unverfänglichen Bericht verfasst und schlussendlich – man sieht quasi den Stein von Michael Zellers Herzen fallen – vom NS-Chefideologen weggelobt wird (S. 63-66).

Auf den letzten 30 Seiten öffnet der promovierte und habilitierte Literaturwissenschaftler den Blick auf den Freitod weiterer Freunde und Menschen aus seinem Umfeld: „Selbstmörder sind meine Brüder, alle“ (S. 112). Aus dem Bericht wird so etwas wie eine wissenschaftliche Studie im Kleinen, und er führt in diesem Zusammenhang Reinhold Schneider, den japanischen Erzähler Yasunari Kawabata oder den palästinensischen Dichter Mahmoud Darwish an.

Sehr eindrücklich sind Berichte von Besuchen in Breslau (heute Wroclaw) und im ukrainischen Charkiw (früher mit „o“ in der zweiten Silbe), wo er eines Onkels Geschichte auf der Spur ist, der auf der „Höhe 159,1“, die heute nicht mehr auszumachen ist, fiel. „Die Kriegsgräber sind die großen Prediger des Friedens“, zitiert Zeller auf S. 126 den Arzt, Theologen und Pazifisten Albert Schweitzer.

Der Nationalsozialismus hat unerträgliche und für viele tödliche Schrecken über die Familie Zeller gebracht, die für das Leben und Leiden von Millionen Europäern steht. Dass Schriftsteller dem deutschen Faschismus zu Diensten waren wie Erwin Guido Kolbenheyer – auch dies kann man in „Brudertod“ nachlesen, einem Buch, das man mit Fug und Recht außergewöhnlich nennen darf.                MATTHIAS DOHMEN

Zeller

Michael Zeller, Brudertod. Ein Kinderleben, Bochum: Brockmeyer 2014, ISBN 978-3-8196-0971-8, 142 S., Euro 14,90, www.brockmeyer-verlag.de.

 

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