Ein Solidarmodell für den Nahverkehr?

Noch bevor die aktuell geplanten Linienkürzungen der WSW umgesetzt wurden, kündigte Kämmerer Dr. Johannes Slawig bereits weitere schmerzhafte Einschnitte an. Aber gibt es nicht auch einen anderen Weg, der das Finanzierungsproblem des Nahverkehrs lösen kann?

Eine der zentralen Forderungen des Bündnis Unsere Stadtwerke lautet:

  • Eine öffentliche Auseinandersetzung mit alternativen Finanzierungskonzepten

Nur eine stabile und dauerhafte Finanzierung schützt den Nahverkehr vor weiteren Kürzungen und ermöglicht auch die Verwirklichung der weiteren Forderungen des Bündnis‘ für den Nahverkehr:

  • Ausbau eines klimaschonenden öffentlichen Nahverkehrssystems
  • Ein Nahverkehr, der allen Teilen der Gesellschaft Mobilität und damit Teilhabe ermöglicht
  • Bessere Arbeitsbedingungen für alle BusfahrerInnen
  • Keine Kriminalisierung von „SchwarzfahrerInnen“

Ein alternatives Finanzierungskonzept möchten wir am Mittwoch (13.3) bei unserer Veranstaltung „Ist der Wuppertaler Nahverkehr in einer Sackgasse?“ vorstellen und diskutieren. Es stammt vom Wuppertaler Blogger Jan Niko Kirschbaum. Hier und heute veröffentlichen wir schon mal seine Idee.

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Ein Solidarmodell für den Nahverkehr


Die Problemlage:
Wuppertal ist eine reiche Stadt – nämlich reich an Problemen. Das größte ist derzeit die desolate Haushaltslage, die zwar durch den Stärkungspakt Stadtfinanzen eine kleine Perspektive bekommen hat, die aber nun durch die neue Berechnung der Gelder wieder zu verschwinden droht. Ein anderes Problem sind derzeit die Stadtwerke, die WSW. Die 1948 aus dem Versorgungsbetrieb (Gas, Strom, Wasser) und der Wuppertaler Bahnen AG (Wubag) gegründeten Wuppertaler Stadtwerke sorgen in einem sogenannten Querverbund dafür, dass die Energiegewinne das Defizit des ÖPNV ausgleichen. Doch auch hier hat sich in den letzten Jahren einiges getan, die Liberalisierung des Energiemarkts führt dazu, dass Unternehmen und Bürger den Anbieter frei wählen können – und nach den Gesetzen der Marktwirtschaft wählen sie das beste Angebot, das die WSW immer weniger fähig sind anzubieten. Unter anderem deswegen hat der Stadtrat im September 2012 die ersten Einschnitte im Angebot des ÖPNV vorgenommen, um das Defizit zu senken. 2010 lag das Defizit des ÖPNV bei 138,29 € pro Kopf.
Doch nicht nur der ÖPNV belastet die Finanzen (in diesem Fall eines Unternehmen im Besitz) der Stadt Wuppertal. Auch der Autoverkehr löchert das Stadtsäckel, allerdings ermittelt die Verwaltung die Zahlen hierfür nicht. So bleiben nur Schätzungen, wie die der Studie der International Council for Local Environmental Inititatives in Zusammenarbeit mit den Städten Bremen, Stuttgart und Dresden. Demnach liegen die Kosten für den Autoverkehr in einer deutschen Kommune durchschnittlich bei 145,5 € pro Kopf (2005). Die Stadt Wuppertal betreibt also derzeit zwei defizitäre Verkehrssysteme und das Beschneiden des ÖPNV wird nur zu einer Kostensteigerung des Autoverkehrs führen.
Eine rein monetäre Betrachtung der Defizite missachtet dabei den jeweiligen Nutzen eines Verkehrsträgers. Für die Stadt Köln kommt eine Studie zu dem Ergebnis, dass die Kölner Verkehrsbetriebe aus jedem investierten Euro einen Nutzen von 5,30 € generieren. Ein beeindruckender Kosten-Nutzen-Faktor. Für Wuppertal existiert eine solche Untersuchung nicht.
Die derzeitige Situation im Nahverkehr sorgt für weitere Probleme. Das VRR-Sozialticket in Höhe von 30 € ist immer noch zu teuer, um von seiner Zielgruppe genutzt zu werden, denn im Hartz-IV-Regelsatz sind für Mobilität gerade einmal 22 € vorgesehen. Die Sparorgie im Nahverkehr sorgt auch dafür, dass WSW mobil GmbH kaum Nachwuchs findet, da sie ihre Angestellten für eine verantwortungsvolle Aufgabe und Wochenend- und Schichtdienst schlecht bezahlt. Da nicht nur die WSW unter Fahrermangel und einem hohen Krankenstand leiden, stehen sie auch auf dem Arbeitsmarkt in einem heftigen Konkurrenzkampf und ist dabei ihn zu verlieren. Und zu guter Letzt ist da auch noch allgemeine Veränderung, die die Verkehrs- infrastruktur derzeit im Rahmen veränderter ökologischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen durchmacht. Überall in Deutschland werden Straßenbahnen ausgebaut oder neu eingerichtet (außer in Hamburg), junge Leute kaufen sich immer seltener ein eigenes Auto und nicht wenige Wissenschaftler sind der Meinung, das wir den Höhepunkt der Erdöl-Förderung (Peak-Oil) bereits hinter uns haben. Der Flächenverbrauch, Lärmemissionen und andere negative Umwelteinflüsse durch das Auto werden nicht mehr uneingeschränkt von den Bürgern als akzeptabel empfunden. Ebenso wird das Stadtbild attraktiver Städte in Zukunft anders aussehen, als wir es heute gewöhnt sind. Wuppertal darf sich hier nicht abhängen lassen, sondern sollte idealerweise Vorreiter sein.

Die Lösung:
Wir brauchen eine neue Form der Finanzierung und da das marktwirtschaftliches Modell sich nicht bewährt hat, ist es an der Zeit, dass sich ein Solidarmodell beweisen kann. Der ÖPNV kommt allen Bürgern der Stadt zu Gute, denjenigen die ihn nutzen und denjenigen, die von seinen Auswirkungen profitieren. Deswegen ist es an der Zeit für den „Fahrscheinlosen Nahverkehr“, auch „kostenloser Nahverkehr“ oder „Bürgerticket“ genannt. Hinter diesen etwas sperrigen Begriffen verbirgt sich nichts anderes als die Idee, dass alle Bürger, Unternehmen und Hotels zusammen die Kosten des ÖPNV tragen, unabhängig von der Häufigkeit der Nutzung. Damit dies gleichzeitig die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Bürger berücksichtigt, bietet sich hierfür eine Erhöhung der Grundsteuer B an, schließlich sucht sich jeder Mieter seine Wohnung oder sein Haus für gewöhnlich nach der Größe seines Geldbeutels aus.
Die Rechnung:
Die Ausgaben der WSW mobil GmbH betrugen 2010 133.181.000 €. (Geschäftsbericht 2010, S.72)
Die Grundsteuer-B Einnahmen der Stadt Wuppertal betrugen 2010 bei einem Hebesatz von 490% 56.110.000 €. (Mittlerweile ist der Hebesatz auf 600 % für 2013 angehoben worden.)
Möchte man nun alle Ausgaben der WSW mobil GmbH durch eine Erhöhung der Grundsteuer B decken und im Gegenzug den Nahverkehr fahrscheinlos machen, braucht man Grundsteuer B-Einnahmen von 56.110.000 € + 133.181.000 € = 189.291.000 €.
Das bedeutet eine Steigerung von 237,36 %. Der Hebesatz müsste also auf 1161,3% angehoben werden. Das sind alles erst einmal gewaltige Zahlen. Also versuchen wir das ganze in die Lebenswirklichkeit umzusetzen.
  • Beispiel 1: Eine 50 m² Wohnung in der Elberfelder Südstadt oberhalb des Steinbecker Bahnhofs: Im Jahr 2010 fielen 82 € Grundsteuer B an. Eine Steigerung von 237,36 % brächte eine Erhöhung auf 194 €. Das wären rund 16 € im Monat. Bei einem Zwei-Personen-Haushalt sind das 8 € pro Kopf.
  • Beispiel 2: Eine  61 m² Wohnung nahe der Universität: Im Jahr 2010 fielen 85 € Grundsteuer B an. Eine Steigerung von 237,36 % brächte eine Erhöhung auf 201 €. Das wären rund 16 € im Monat. Bei einem Zwei-Personen-Haushalt sind das 8 € pro Kopf.
  • Beispiel 3: Eine 91 m² Wohnung in der Nähe des Klever Platzes, obere Elberfelder Südstadt. Im Jahr 2010 fielen 188 € Grundsteuer B an. Eine Steigerung von 237,36 % brächte eine Erhöhung auf 445 €. Das wären rund 37 € im Monat. Bei einem Zwei-Personen-Haushalt 18,50 € pro Kopf.
  • Beispiel 4: Ein Haus mit Grundstück im Süden Cronenbergs. Im Jahr 2010 fielen 457 € Grundsteuer B an. Eine Steigerung von 237,36 % brächte eine Erhöhung auf 1083 €. Das wären rund 90 € im Monat. Bei einem Zwei-Personen-Haushalt sind das 45 € pro Kopf.
Der VDV rechnet für die Einführung des Solidarmodells mit durchschnittlich mindestens 30% mehr Fahrgästen. Das bedeutet natürlich nicht mehr Ausgaben in der gleichen Höhe, da ja zum Beispiel die Kosten für das Ticketing und die Kontrolleure wegfallen, aber nehmen wir es der Einfachheit halber mal an. 30% von 133.181.000 € (Ausgaben 2010) sind 39.954.300 €, sodass wir auf 173.145.300 € kommen.
173.145.300 € zusätzliche Kosten + 56.110.000 € Grundsteuer B = 229.245.300 €
Dies bedeutet eine Steigerung von 308,56 %.
Bei einer Steigerung von 308,56 % würde die Grundsteuer B für die
  • Beispielwohnung 1 auf  253,02 € steigen, also 21,09 € im Monat.
  • Beispielwohnung 2 auf  261,80 € steigen, also 21,81 € im Monat.
  • Beispielwohnung 3 auf  579,04 € steigen, also 48,25 € im Monat.
  • Beispielwohnung 4 auf 1407,56 € steigen, also 117,30 € im Monat.
Die Auswirkungen:
Was sind die Auswirkungen der Umstellung des ÖPNV vom defizitären marktwirtschaftlichen Modell auf eine Solidarmodell? Das Wuppertal-Institut urteilt in seiner Studie „Zukunftsfähige Stadtentwicklung: Low Carbon City Wuppertal 2050:“

„Angenommene Wirkung

Das Bürgerticket [so wird in der Studie das Solidarmodell bezeichnet] wird seine Wirkung insbesondere bei denjenigen Bevölkerungsgruppen entfalten, die im Referenzfall über kein Ticket-Abonnement verfügen. Dies betrifft die Arbeits-, Besorgungs- und Freizeitwege, während bei den Ausbildungswegen der ÖPNV ohnehin einen hohen Anteil am Modal Split hat. Es wird weiterhin angenommen, dass sich durch das kostenlose Angebot mehr Nachfrage einstellt und damit sukzessive Taktungen und die Netzwirkung des ÖPNV verbessert werden können, was wiederum zu höherer Nachfrage führt. Im Jahr 2050 wird bei den Arbeitswegen der Anteil der Busse, S-Bahnen und der Schwebebahn ein Zuwachs von 20 Prozentpunkten angenommen. Bei den Besorgungs- und Freizeitwegen werden plus 5 bzw. plus 18 Prozentpunkte in 2050 und eine entsprechende Abnahme des PKW-Verkehrs angenommen. Das Bürgerticket wird für Freizeitwege ab 2040 besonders attraktiv, da für die 2030er Jahre seine bundesweite Einführung angenommen wird.“ (S.98)

Außerdem urteilen die Wissenschaftler:

„Ein Wuppertaler Bürgerticket hätte das Potenzial zum bundesweit beachteten Leuchtturmprojekt und könnte Ausgangspunkt für eine schrittweise Ausweitung sein.“(S.96)

„Das Bürgerticket etwa kann nicht nur eine deutliche Klimaschutzwirkung entfalten, sondern auch zu sozialer Teilhabe beitragen. Damit würde die Lebensqualität Wuppertal auch im Vergleich anderer Städte steigen.“(S.109)

Finanzielle Auswirkungen:
Die finanziellen Auswirkungen auf jeden einzelnen lassen sich bedingt durch die leistungsabhängige Besteuerung nicht ermitteln. Grundsätzlich wird jeder nur im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit belastet, Paare und Familien, bzw. WGs werden bevorzugt, Singles mit eigener Wohnung benachteiligt. Wer sich bisher nicht einmal das Sozialticket leisten kann, wird ebenfalls vom Fahrscheinlosen Nahverkehr profitieren, denn der Staat zahlt mit den Wohnkosten auch seinen Solidarbeitrag. Wer bisher den ÖPNV nutzt, kann höchstwahrscheinlich sparen, wer den ÖPNV nicht nutzt, wird stärker belastet. Dabei geschieht die Finanzierung sehr einfach und unbürokratisch – der Nahverkehr ist (für Mieter) in den Nebenkosten enthalten, für Hauseigentümer im Grundsteuerbescheid. Wohnen in Wuppertal – Nahverkehr inklusive.
Die WSW erhalten gleichzeitig finanzielle Unabhängigkeit und können den Nahverkehr im Angebot und im Service verbessern, die Energiesparte kann entweder die Preise für Gas/Strom/Wasser senken oder die Gewinne aus diesem Geschäft in den Haushalt einbringen – das wären ungefähr 40 – 50 Millionen Euro. Wenn der Nahverkehr durch diese Maßnahme auch von Autofahrern stärker genutzt wird, verringert sich auch die Belastung des Stadtsäckels durch die Vorhaltung der Infrastruktur für den MIV.
Soziale Auswirkungen:
Hier liegen die Vorteile klar auf der Hand. Der Fahrscheinlose Nahverkehr ermöglicht allen Gesellschaftsschichten Mobilität und damit Teilhabe am Leben. Ebenso wichtig: Die WSW können ihrem Personal einen angemessen Lohn zahlen, ihre Motivation verbessern und die Personaldecke so gestalten, dass zufriedene Mitarbeiter gute Arbeit leisten.
Ökologische Auswirkungen:
Der ÖPNV ist umweltfreundlicher als der Autoverkehr. Der Flächenverbrauch ist geringer, die CO2- und Lärm-Emissionen sind es ebenso. Darüber hinaus verschafft der Fahrscheinlose Nahverkehr – wenn die Politik es will – die Möglichkeit, die Verkehrsmittel umweltfreundlicher zu gestalten, z.B. durch den Einsatz von O-Bussen oder gar einer Rückkehr der Straßenbahn.
Auswirkungen auf das Stadtbild:
Was wir mit dem Raum zwischen zwei Häusern anfangen, ist Teil der Attraktivität und Lebensqualität des Stadtbildes. In Wuppertal gehören 80-90% dieses Raumes dem Auto, sei es als Parkfläche oder Straßenraum. Ein höherer ÖPNV-Anteil und ein geringerer Auto-Anteil ermöglicht neu darüber nachzudenken, was wir mit diesem Raum anfangen und wie wir ihn aufteilen und gestalten. Ganz markant stellt sich diese Frage natürlich an den großen „Asphaltwüsten“ wie dem Döppersberg, dem Alten Markt, dem Robert-Daum-Platz, etc. Man könnte die Stadt grüner machen, dem Radverkehr mehr Platz einräumen und natürlich auch die Fußgänger nicht länger so hart an den Rand des Verkehrsraums drängen. Es wäre mehr Platz für Straßencafés da, aus Parkplätzen könnten Spielplätze werden und am Ende könnten auch Stadtviertel profitieren, die heute durch ihre Lage unattraktiv sind. Wie auch immer die Bürger sich eine attraktive Stadt vorstellen, das Solidarmodell macht es möglich, dass man die Mittel besitzt, um die Ideen der Bürgerschaft umzusetzen. Die Stadt der Schwebebahn könnte wieder eine Stadt werden, auf die andere neidisch sind.
Offene Fragen:
Neben der Frage, ob sich im Stadtrat eine Mehrheit für diese Idee findet, gibt es noch andere offene Fragen, die geklärt werden müssen:
1. In welchem Umfang werden die Menschen und Gäste dieser Stadt den Fahrscheinlosen Nahverkehr nutzen und mit welchen zusätzlichen Kosten ist konkret zu rechnen?

2. Inwiefern kann der Fahrscheinlose Nahverkehr in den VRR integriert werden, oder müssen die WSW aus dem Verband aussteigen? Wie werden die S-Bahnen und der Regionalverkehr im Gebiet der Stadt Wuppertal integriert oder ist das nicht möglich?

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Kommentare

  1. petzi sagt:

    Kein guter Vorschlag. Er wäre allenfalls akzeptabel, wenn das ÖPNV Angebot so ausgebaut würde, dass es ein Auto ersetzen könnte. Das wäre aber mit noch höheren Kosten und einer entsprechenden noch höheren Grundsteuererhöhung verbunden. Wieder einmal sollen die zahlen, die nicht weglaufen können, denn Immobilienbesitzer sind wohl immer grundsätzlich alle reich, weshalb man es von ihnen nehmen kann. Was passiert also, wenn ein Gut- oder Spitzenverdiener in einer Mietwohnung wohnt, die von einem Normalverdiener mit Mühen abgezahlt wird? Selbst wenn die Grundsteuer auf die Miete umgelegt wird, zahlt hier der Besserverdiener weniger, besonders dann, wenn es ein Mehrpersonenhaushalt ist. Wie wär’s denn mit einem Nachverkehrssoli auf die Einkommenssteuer, damit die die mehr Einnahmen haben auch mehr zahlen. Das würde besonders im letzteren Fall für Gerechtigkeit sorgen, da Gutverdiener eher ein Auto haben, und damit durch Nichtnutzung des ÖPNV diesen auch nicht finanziell unterstützen. Und diesen EK Soli könnte man mit einem Kfz-Steuer Soli noch ergänzen, so dass die mit-Problemverursacher auch zu Kasse gebeten werden. So jedenfalls geht’s nicht, jedenfalls nicht mit mir.

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