Buch des Monats: Sven Beckerts „King Cotton“

900 Jahre lang – bis zum Jahr 1900 – war die Baumwollindustrie „die wichtigste verarbeitende Industrie der Welt“ (S. 10). Barmen und Elberfeld haben davon profitiert.

Dann verlagerte sich die Produktion dorthin, woher über die Jahrhunderte zuvor die feinen Textilien gekommen waren, nämlich in den asiatischen Raum, nach China oder Bangladesh, wo die global agierenden Firmen produzieren lassen. Barmen und Elberfeld, die im 19. Jahrhundert im Zentrum der textilen Produktion und des Welthandels standen, verloren dramatisch an Bedeutung wie auch Manchester und Liverpool, wo – Sven Beckert beschreibt es dramatisch am Beginn seines Schlusskapitels – an einem regnerischen Dezembermorgen des Jahres 1963 die „wertvolle Clubeinrichtung“ der Baumwollbörse verhökert wird (S. 385). Aus die Maus.

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Die Geschichte der Baumwolle ist eine Geschichte des Kapitalismus: des Kriegskapitalismus, wie ihn der Historiker nennt, und des sich ihm folgenden Industriekapitalismus. Eine blutige Geschichte, wie es auf S. 12 f. heißt: „Der Kriegskapitalismus gedieh nicht in den Fabriken, sondern auf Feldern; er war nicht mechanisiert, sondern flächen- und arbeitsintensiv, da er auf der gewaltsamen Enteignung von Land und Arbeitern“ in Afrika, Asien und Amerikas beruhte. „Wenn wir an Kapitalismus denken, dann denken wir an Lohnarbeiter – aber diese erste Phase des Kapitalismus basierte im Wesentlichen nicht auf freier Arbeit, sondern auf der Sklaverei. Wenn wir an Kapitalismus denken, dann denken wir an Verträge und Märkte, aber die erste Phase des Kapitalismus gründete sich häufig auf den Einsatz von Gewalt und körperlichem Zwang“. Beckert

Die exorbitanten Steigerungen der Produktion auf den US-amerikanischen Baumwollfeldern wären nicht ohne die Sklaverei möglich gewesen, und die Sklaven wurden in Afrika gegen Baumwollprodukte eingetauscht. Baumwollprodukte waren „die ersten globalen Konsumgüter“ (S. 12). „Zahlreiche neue industrielle Herstellungsmethoden kamen zuerst im Bereich der Baumwollfabrikation auf. Die Fabrik selbst war eine Erfindung der Baumwollindustrie“ (S. 14). Selbst die moderne Personalbuchhaltung wurde auf den Sklavenplantagen entwickelt (S. 71).

Übrigens war der „erste bedeutende Vorstoß“ der Baumwolle in Europa, wie auch in Westafrika, eine Folge der Ausbreitung des Islam. „Die Verbindung zwischen dem Islam und der Baumwolle war so eng, dass die meisten westeuropäischen Sprachen ihre Bezeichnung für die Faser vom arabischen Wort qutun ableiteten. Das französische coton, das englische cotton, das spanische algodon, das portugiesische algodão, das niederländische katoen und das italienische cotone“ (S. 36) kommen da her.

Beckert hat ein großartiges Epos geschrieben, das mit zahlreichen Fotos und Tabellen gespickt ist. Er zitiert Herodot oder Daniel Defoe, führt Mythen und Sagen an, ist in der bengalischen Hafenstadt Dhaka genau so zu Hause wie im elsässischen Mulouse. Und führt einen Unternehmer aus Augsburg an, den jungen Weber Hans Fugger, der sehr früh bis zu 100 Textilhandwerker beschäftigte und im Fernhandel reich und mächtig wurde (S. 39). Es handelt sich bei Beckerts Arbeit also en passant auch um eine Geschichte der Textilindustrie in Deutschland, auch wenn es im Ortsregister – lässliche Sünde – „Barmen b. Wuppertal“ heißt (S. 519).

Es wechseln die Zeiten, behauptet Bertolt Brecht in seinem Lied von der Moldau, dagegen helfe keine Gewalt. In den Worten Beckerts: „Eine Welt, die in einem Moment stabil und dauerhaft erscheint, kann im nächsten Moment radikal verändert werden“ (S. 398).

MATTHIAS DOHMEN

Sven Beckert, King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München: Beck 2014, ISBN 978-3-406-65921-8, 526 S., Euro 29,95, www.beck.de.

 

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