Mühsames Ringen mit den Wörtern

Nur wenige der geschätzt 7,5 Mil. Analphabeten trauen sich in Lese- und Schreibkurse, z.B. bei der VHS-Wuppertal.

Im Beruf zu bestehen, ohne Lesen und Schreiben zu können, ist im Computerzeitalter fast unmöglich. Alphabetisierungskurse für Erwachsene können Betroffenen helfen – und werden dennoch nur wenig genutzt.

Für Martin Sell war die Sache irgendwann klar: „Ich habe keine Lust mehr auf doofe Jobs“, entschied der 39-Jährige. Nach jahrelangen Hilfsarbeiten und langer Arbeitslosigkeit suchte er eine neue Perspektive – und stellte sich einer großen Herausforderung: In einem Alphabetisierungskurs für Erwachsene lernt Sell an der Volkshochschule (VHS) Wuppertal derzeit mühsam lesen und schreiben.

Sell ist funktionaler Analphabet – einer von rund 7,5 Millionen erwerbsfähigen deutschsprachigen Erwachsenen in der Bundesrepublik. Von funktionalem Analphabetismus spricht man, wenn die Lese- und Schreibkenntnisse einer Person nicht dem Kenntnisstand entsprechen, der in einer Gesellschaft erforderlich ist und vorausgesetzt wird. Die Betroffenen können zwar vereinzelte Wörter lesen und schreiben, aber keine zusammenhängenden Sätze. Sie sind in einer Zeit, in der Computer schriftliche Kenntnisse in nahezu allen Lebensbereichen nötig machen, besonders ausgegrenzt.

Ohne Lesen und Schreiben durchs Berufsleben zu kommen, werde immer schwieriger, sagt Sells VHS-Kursleiterin Astrid Eberlein: „Es gab früher nicht unbedingt weniger Analphabeten. Es gab nur nicht so viel Schriftkram.“ Selbst bei Putzkräften oder Gebäudereinigern seien heute Kenntnisse in Wort und Schrift notwendig, etwa um Bestellungen für Material aufzugeben.

Alphabetisierungskurse sollen den Betroffenen die Grundlagen des Lesens und Schreibens vermitteln. „Wenn man nicht mehr jung ist, ist das für die Teilnehmer keine leichte Aufgabe“, berichtet Eberlein. „Es ist gewissermaßen so, als würde man versuchen, eine fremde Sprache mit fremden Schriftzeichen, wie etwa Chinesisch, zu lernen.“

Das Lernen ist langwierig: Für eine berufstaugliche Lese- und Schreibbildung empfiehlt der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung in Münster 1.200 Unterrichtsstunden. Bei sechs Stunden pro Woche kommen so vier Jahre zusammen. „Für Arbeitslose gibt es zu wenige solcher Intensivkurse“, kritisiert Geschäftsführer Peter Hubertus. Die meisten Angebote seien mit weniger als vier Wochenstunden eher auf Berufstätige auslegt.

Doch die Nachfrage an den Kursen hält sich sehr in Grenzen. Nur rund 20.000 der 7,5 Millionen Analphabeten nehmen daran teil. Gründe sind aus Sicht von Experten vor allem ein fehlendes flächendeckendes Angebot sowie Dauer und Kosten. Bei VHS-Kursleiterin Eberlein kostet der Kurs 250 Euro pro Jahr. Bei Arbeitslosen übernimmt zwar die Arge die Kosten. Doch oft gebe es von der Behörde Druck, eine Beschäftigung anzunehmen, berichtet Eberlein. „Entweder Arbeit oder Schule“, bekommen dann manche Kursteilnehmer von ihren Chefs zu hören.

Der Bundesverband Alphabetisierung fordert daher ein Grundrecht auf die kostenlose Teilnahme an 1.200 Kursstunden. Er orientiert sich an dem Modell für Migranten, die 600 Stunden Integrations-Deutschkurs gratis absolvieren können. Doch während dabei der Bund für die Finanzierung zuständig ist, sind Alphabetisierungskurse für Erwachsene Sache der Länder. Nordrhein-Westfalen will mit dem jüngst gestarteten Netzwerk Alphabetisierung und Grundbildung „Alphanetz“, das vom Landesverband der Volkshochschulen getragen wird, neue Wege gehen. Es soll Initiativen in den Regionen bündeln und neue Konzepte für Lernangebote entwickeln.

Doch auf eine weitere Hemmschwelle haben alle Initiativen nur wenig Einfluss: die Scham vieler Analphabeten. „Man muss sich noch einmal mit demselben Gegenstand beschäftigen, an dem man in der Schule gescheitert ist und Schiffbruch erlitten hat“, erläutert Hubertus. Auch Kursleiterin Eberlein sagt: „Das ist ein Outing, das vielen schwerfällt.“

Oft wisse nicht einmal die Familie von der Lese- und Schreibschwäche des Betroffenen. In vielen Fällen helfe im Alltag ein Lebenspartner. Zu den zwingenden Gründen, etwas zu unternehmen, zähle Nachwuchs, berichtet Eberlein: „Da sagen sich viele, dass sie jetzt etwas tun müssten, um später ihren Kindern helfen zu können.“

text: epd-west/frank bretschneider/ör-wj

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